Montag, 17. August 2009

HYDER Alaskas freundlichste Geisterstadt

US-ÖRTCHEN HYDER

Alaskas freundlichste Geisterstadt

Ein paar Dutzend Einwohner, viele Grizzlies, eine Schnapssorte: Das Örtchen Hyder in Alaska lockt mit seinem schroffen Charme vor allem Wandertouristen an. Die Grenze zu Kanada ist nur ein paar Meter entfernt - trotzdem sind die Leute hier besonders patriotische US-Bürger.

Hyder - Zuerst brennt es nur. Doch will man dann tapfer verkünden, dass alles gar nicht so schlimm war, bleiben einem die Worte im aufgerauten Halse stecken. Unterdessen stülpt der Barmann das Glas auf dem Tresen um und zündet die ausgetropfte Neige an. Das blaue Flämmchen zeigt an: Das war ein heißer Tropfen. Inzwischen ist die Sprache zurückgekehrt. "Wow, was war das denn?", lautet der erste Ausruf. Und mit einem verschmitzten Lächeln erklärt der Mundschenk: "Willkommen in Hyder, Alaska. Jetzt bist Du Hyderized."

Der feurige Begrüßungstrunk entpuppt sich als hochprozentiger Korn, mit 75 Volumenprozent Alkohol ein echter Rachenputzer. Für diesen Schnaps ist Hyder berühmt und berüchtigt. Das "Glacier Inn", die älteste Kneipe des Ortes, wirbt über der Eingangstür offensiv: "Get Hyderized... hervorgebracht im Glacier Inn 1956". "Meine Eltern haben den Pub 1956 gegründet, seither wird der Schnaps ausgeschenkt", erzählt Jodie Bunn, die die Kneipe inzwischen übernommen hat. Die Flasche mit dem Korn bleibt immer in einer Papiertüte verborgen.

"Erst nach dem Trinken verraten wir, was es war", sagt Jodie. Zur Sicherheit wird immer ein Glas Wasser ohne Kohlensäure dazugestellt. "Manche brauchen das", klärt die Barbesitzerin auf.

Ziemlich weit im Norden: Hyder liegt gerade noch in den USA, Steward schon auf der anderen Seite der kanadischen Grenze
TMN

Ziemlich weit im Norden: Hyder liegt gerade noch in den USA, Steward schon auf der anderen Seite der kanadischen Grenze

Hyder in Alaska, dessen Einwohnerzahl je nach Jahreszeit zwischen 60 und 95 schwankt, ist ein Unikum. Im äußersten Südosten Alaskas gelegen, ist es der einzige Ort der USA, in den man aus dem Ausland ohne Kontrollen durch Einwanderungs- und Zollbehörde einreisen kann.

Denn Hyder ist nur von Kanada aus zugänglich: Drei Kilometer hinter dem Nachbarort Stewart in der Provinz British Columbia (BC) verläuft die Grenze. Dort, wo der Highway 37A sich von einer Asphaltstraße in eine unbefestigte Piste verwandelt, beginnen Hyder, Alaska und die USA. 14 Kilometer später ist man wieder in Kanada: Bei der ehemaligen Minensiedlung Premier führt die Straße zurück nach British Columbia.

Goldrausch lockte erste Siedler an

Die Straße endet im Nirgendwo. Nachdem alle verlassenen Minen samt der einst gigantischen Granduc Copper Mine passiert sind, bleibt nur der großartige Ausblick auf die monumentalen Berge und Gletscher der nördlichen Coast Mountains. In ihrem Zentrum kriecht auf einer Höhe von rund 1300 Meter der gewaltige Salmon Glacier, der fünftgrößte Gletscher Nordamerikas, im Zeitlupentempo um die Gipfel talwärts, zergeht dort und fließt als Salmon River in den Portland Canal.

Die umliegenden Berge waren einst das größte Kapital von Hyder und Stewart. 1898 kamen im Sog des Klondike-Goldrausches die ersten Siedler ans Ende des Portland Canals, eines 148 Kilometer langen Fjords. Statt der erhofften Nuggets an der Oberfläche aber gab es nur Erzadern in der Tiefe. Während die Enttäuschten das Weite suchten, ließen sich die Unerschrockenen nieder und gründeten Hyder und Stewart. Über die Jahre trieben Bergleute in mehr als 40 Minen Stollen und Tunnel in die Berge und förderten Gold, Silber, Kupfer, Zink und Wolfram. Nach Premier und Riverside in den Fünfzigern schloss die Granduc Copper Mine 1984 als letztes der großen Bergwerke.

Als der US-Armee-Ingenieur David D. Gaillard 1896 am sogenannten Eagle Point ein steinernes Lagerhaus bauen ließ, waren die Grenzen zwischen den USA und Kanada in dieser Region noch nicht exakt fixiert - und auch heute noch sind Details strittig. Erst 1905 wurde der Grenzverlauf zwischen Alaska und British Columbia festgelegt. Bis dahin stand Hyder, das auf Pfählen im Watt des Portland Canals als "Portland City" errichtet worden war, gewissermaßen im Niemandsland.

Genaugenommen war Hyder zunächst sogar kanadisch, weil erste vorläufige Festlegungen das US-Territorium westlich des 56. Breitengrades ansiedelten. Wegen der Ungewissheit wurden die ersten Schürfrechte sowohl nach Alaskas als auch nach BC-Bergbaugesetzen vergeben. Erst in den dreißiger Jahren zog Hyder vom kanadischen Wasser aufs Festland von Alaska. 1948 brannte die verlassene Holzstadt ab und hinterließ nichts als Pfahlreste, die heute wie faulige Zahnstümpfe aus dem morastigen Grund des Fjords ragen.

Zur Schule ins Ausland

Heute markiert die Ostwand von Gaillards Lagerhaus die Grenze. Neben ihr steht zum Canal hin der Grenzstein, und in gerader Verlängerung zur anderen Seite ist auf dem Fels eine Schneise in den Wald geschlagen worden als sichtbares Zeichen für den Grenzverlauf. Das ist auch nötig, denn bis auf das Schild "Entering Alaska" gibt es keinen Hinweis darauf, dass man eine internationale Grenze überquert.

Das mag auch an Hyders Zwitterstellung liegen. Die Einwohner sind nicht im Telefonbuch von Alaska, sondern im Nachschlagewerk von Stewart mitsamt der Vorwahl von British Columbia zu finden. Kinder lernen das ABC quasi im benachbarten Ausland, erst später wechseln sie zur Schule ins knapp 200 Kilometer entfernte Ketchikan.

Dennoch ist auch in Hyder so viel USA wie in ganz Alaska: "Hier ist alles komplett anders als in Kanada, obwohl es nur 100 Yards entfernt ist", sagt Wes Loe. Der weißhaarige Vietnam-Veteran betreibt einen von zwei Läden in Hyder und zeigt wie zum Beweis die Pistole, die er hinter seiner Ladentheke liegen hat. "Jeder trägt hier eine Waffe und hat noch eine im Schlafzimmer", erklärt er. Der Einfluss der strengen kanadischen Waffengesetze endet ebenso an Gaillards Lagerhaus wie die Befugnisse der Royal Canadian Mounted Police.

Deshalb hat Hyder zwar eine Freiwillige Feuerwehr, die laut einem Aushang am Gemeindehaus Freiwillige sucht, aber keine Polizei. "Wenn wir hier Probleme haben, lösen wir die selbst", sagt der Krämer im Stil eines Western-Helden. Sollte es doch nicht so einfach gehen, kommt die Polizei aus Ketchikan - etwa nach Schießereien, die es auch in der selbsternannten "freundlichsten Geisterstadt Alaskas" gibt.

Paradies für Grizzlies und Schwarzbären

Acht Monate im Jahr ist Hyder ein verschlafenes Nest. Doch von Juni bis September steppt auf der Schotterstraße im wahrsten Wortsinn der Bär. Wenn die Lachse den Salmon River flussaufwärts zu ihren Laichplätzen streben, versammeln sich an Flüssen und Bächen Grizzlies und Schwarzbären, um sich mit den fetten Happen das Polster für die Winterruhe anzufressen. Selbst der seltene Kermode- oder Geisterbär, eine weiße Unterart des Schwarzbären, ist dort beheimatet. Und mit Lachsen und Bären strömen auch die Touristen in die Stadt. Im Jahr 2000 wurde eigens eine hölzerne Beobachtungsplattform gebaut, von der aus die Schaulustigen das große Fressen beobachten können.

"Das ist wie beim Wale beobachten: Wenn einer auftaucht, rennen alle auf eine Seite und bringen das Boot fast zum Kentern", erzählt Wes. Statt "Whale Watching" bietet Hyder "Bear Watching" - nirgends in Alaska können Bären in freier Natur so beobachtet werden, ohne dass man die Bequemlichkeit der Autoanreise missen muss. Seit 2006 ist die Bären-Schau aber nicht mehr kostenlos. Die Spendenbüchse wurde von Besucher-Pässen abgelöst. Sie kosten 5 US-Dollar (3,50 Euro) für einen Tag und 75 US-Dollar (52,50 Euro) für die Saison.

Ranger des Tongass National Forest Service patroullieren von Juli bis Anfang September und achten auf die Einhaltung der Regeln. Nicht ganz klar ist, ob zum Schutz der Bären oder der Menschen. Schilder weisen überall darauf hin, dass die Bären wilde Tiere sind, dass sie nicht gefüttert oder bedrängt und auch keine Haustiere mitgebracht werden dürfen. Unfälle kommen vor, etwa im Sommer 2000, als ein Braunbär einen Mann aus Ketchikan zerfetzte.

Pokern mit Motorschlitten

Hyder und Stewart würden gern auch den Winter-Tourismus beleben. Für den "Bordertown Snowbombers Snowmobil Club" bietet die Region "das beste Snowmobiling in Nordamerika". Als Höhepunkt jeder Saison organisiert der Club immer zu Ostern den "Poker Run". Die Teilnehmer absolvieren einen abgesteckten Parcours mit mehreren Stationen. An jeder erhält der Fahrer eine Spielkarte. Sieger wird derjenige, der mit seinen gesammelten Karten das beste Poker-Blatt auf der Hand hat.

Traditionell startet anschließend die Party im "Glacier Inn". Nicht wenige Teilnehmer folgen dort dann einer Tradition: Sie hinterlassen einen signierten Geldschein an der Wand. Die Kneipe ist tapeziert mit Scheinen aus aller Welt. "Das sind jetzt etwa 85.000 Dollar", sagt Barbesitzerin Jodie Bunn. Begründet hatten den Brauch Bergleute, die einst die unterschriebenen Scheine an die Wand steckten, um für das Bier beim nächsten Mal garantiert Geld zu haben.

Die älteste Banknote in der Kneipe hat einen Ehrenplatz: Der kanadische 25-Cent-Schein aus dem Jahr 1870 hängt in einem Bilderrahmen hinter der Bar und ist auch nicht signiert.

Während das "Glacier Inn" floriert, fristen andere Gebäude und Geschäfte ein trauriges Dasein. Der "Canal Trading Post" ist ebenso verwaist wie die orthodoxe St. Paul's Kirche oder die einzige Tankstelle des Ortes, der "Salmon River Outpost" steht zum Verkauf.

Zurück in Kanada wird man von einem Zollposten empfangen. Lichter und ein Stopp-Schild fordern zum Anhalten auf. Eine uniformierte Dame kommt zur Fahrerseite. Freundlich nimmt sie das "Nein" auf ihre Frage entgegen, ob man unerlaubte Dinge wie Waffen, Munition oder unverzollten Tabak dabei habe und verabschiedet den Reisenden mit einer Begrüßung: "Gut. Willkommen in Kanada. Und gute Reise."


source: spiegel


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